Samstag, 14. Juni 2014

Elfmeter

Das hatte jetzt alles keine Bedeutung für ihn: die Blicke seiner Mannschaftskameraden im Nacken, das silbrige Rechteck, der Flieger am Nachthimmel über dem Tribünendach, die Anfeuerungsrufe, das anschwellende Buhen der Gegner, die gähnende Hitze in der Stadionschüssel und auch nicht die Gestalt dort im Tor. Nun palaverten die Reporter über den langen Weg, doch kurz war der Weg vom Mittelkreis bis zum Elfmeterpunkt. Ihr fiebert im Wahn, ihr da oben und ihr Millionen vor den Fernsehschirmen. Alle meinen dieser Gang sei etwas Besonderes. Aber er spulte doch nur dieses Programm ab, alles war komplett automatisiert. Die fürchterlichen Möglichkeiten existieren nur in euren Köpfen. Nicht in meinem. Dichtmachen, überhaupt nichts mehr mitbekommen, egal ob sie anfeuern oder ausbuhen. Auch nicht die Faxen des Torhüters. Mach du nur deinen Hampelmann auf der Torlinie. Er marschierte mit leichten Schritten und erhobenem Kopf. Sein Mund war trocken nach dem Spiel und elf Strafstößen. Er saugte Spucke tief aus der Kehle. Dieser eine Schuss wog mehr als sämtliche Schüsse zuvor. Sieg oder Niederlage. Er merkte gar nicht, dass er weiterging, war überrascht, ungläubig. Die Beine taten ihre Schuldigkeit, seine Gedanken zurück in die Kindheit. Elfmeterschießen. Kein Blick zu seinem Vater am Spielfeldrand und doch hörte er ihn: Verantwortung übernehmen. Wenn nicht du, wer dann? Deswegen hatte er geschossen, wie er in wenigen Sekunden schießen würde. Mit seiner Rechten verscheuchte er eine Mücke. Es gab Menschen, die dachten Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. War in Wirklichkeit natürlich wichtiger.
Gelassen, ruhig durchatmend, sprang er in eine leichte Grätsche, schwang beide Arme seitlich hoch und klatschte über dem Kopf in die Hände. Nur locker bleiben. Zwei von Fünfen hatte er schon gehalten. Nun den dritten und die Sache war gebongt. Verlieren konnte er nicht, nicht beim Elfmeterschießen. Kenner und Fußballkäuze meinten der Torwart stecke dabei im dicksten Schlamassel. Tat er nicht. „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, gab es die wirklich? Der Schütze hatte Angst, nicht der Tormann. Schulde ihm einen Teil meines Ansehens, dem arglosen Schreiberling. Kennt ja nur den kleinen Applaus von Gehemmten. Weiß nichts vom Glücksgefühl, wenn nach dem gelungenen Sprung in die Ecke das Stadion überschäumt. Wenn er den Ball aus dem Winkel fischte, war er der Held, und Held war er selbst dann, wenn der Schütze den Ball in die Wolken wuchtete. Er konnte sogar in die falsche Ecke hechten und wurde noch immer nicht als Versager beschimpft in diesem ungleichen Zweikampf. Eigentlich flog der Ball viel zu schnell fürs menschliche Reaktionsvermögen. Seinen Flug zu stoppen, bevor das hilfreiche Netz ihm die Aufgabe abnahm, war nicht nur eine Anomalie, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit. Wie die Liebe! He, ihr da oben im Oberstübchen, Ruhe jetzt, hört auf zu zwitschern. Da schleppt er sich zum Elfmeterpunkt, wedelt er sich auch noch Luft zu. Sie hatten keine Chance, hatten schon mit der Reihenfolge der Schützen einen Fehler gemacht.
Dort war auch schon der Punkt, nicht mehr weiß und rund, nur noch ein dreckiger Fleck nach elf Schüssen. Der Torhüter schlug klatschend die Hände zusammen. Nein, das Tor war nicht klein, es war groß, klein war der Torwart, nicht groß. Er blickte dem Faxenmacher in die Augen und empfand leichten Schwindel. Die Masse auf der Tribüne verlaufende Farbe. Er blickte zurück. Da hinten standen sie in einer Reihe, Arme über Schultern. Es ging um Millionen für ihn und für die dahinten. Und es ging um sein Land. Um die Ehre, jetzt nur nicht laut lachen. Nein, jetzt geht es um mich, um Treffen oder Verschießen, um Sieg oder Niederlage, du oder ich. Er musste treffen, Heike saß auf der Tribüne mit seinem Sohn. Er nahm den Ball, drückte ihn gegen seine Brust und legte ihn in die Mitte des dreckigen Flecks. Nein, zu tief, will nicht in die Erde hacken. Er rückte den Ball einen Zentimeter nach rechts. Ja, liegt nun ideal. Moment, die flache Stelle ist besser. Wieder bückte er sich und legte den Ball nun auf den vorderen Rand des Elfmeterpunktes. Bescheuerter Schiedsrichter, rollte mit seinem rüden Stiefel den Ball einfach zurück, ohne sich weiter um seine Lage zu kümmern. Also noch mal. Abermals legte er den Ball auf die plane Stelle und streichelte ihn zum vierten Mal, nur verstohlener. Immer sachte, dann klappt’s. Schon wieder sein Vater.
Er warf die Flasche in die Ecke des Tors und federte aus den Knien heraus hoch über die Latte greifend. Und nun noch mal das Video. Auf einem Bildschirm hinter seinen Augen sah er den Spieler anlaufen. Der Fuß des Standbeins zeigte in die linke Ecke. Und noch einmal. Dieses Mal zeigt der Fuß des Spielers in die rechte Ecke und schon ist er dort. Egal was dem da im Leben sonst noch zustoßen mochte, dieses Bild wird sich einbrennen, wie ich hier stehe, breitbeinig und grinsend, dieses immer fetter werdende X, das fast schon das ganze Tor ausfüllt. Immer wird er sich an meine Augen erinnern und an die blitzenden Pfosten, die ich schon fast greifen kann. Und an das schwarze Netz wird er sich erinnern, vielleicht sogar an die wilden Worte seines Trainers. Das sei doch keine Trauerveranstaltung, welcher Idiot von einem Funktionär auf die Idee gekommen sei, schwarze Netze hinter die Tore zu hängen. Und nun bin ich die behände Spinne, die ihr undurchlässiges Netz zwischen die beiden Pfosten gespannt hat, unsichtbar. Da, er hat es erspäht. Nur ganz oben rechts im Winkel habe ich ihm eine Lücke gelassen. Mein Angebot. Wo wäre sonst der Spaß?
Immer wird er sich an meine Riesenhände erinnern und die roten Schuhe und die Blutschramme auf meiner Wange und an das Tosen danach. Er begreift meine Ruhe nicht. Ja wie auch! Wie könnte der Versager ahnen, dass ich seinen künftigen Albtraum kenne?
So, sachte und ruhig. Nun ganz entspannt, noch ein Blick in den rechten Winkel und einen in die linke untere Ecke. Dann gemächlich umdrehen. Hoeness, lass mich in Ruh! Nicht an die Zukunft denken. Ich weiß, ich weiß, wenn ich ihn schlimmer vermurkse als du 1976, dann brauchst du dich nie mehr zu schämen. Meine Schande wird alles Frühere überdecken mit tausend gestochen scharfen Bildern. Was sind dagegen die ewig wiederkehrenden aus jener verwischten Zeit? Knallte einer von uns mal wieder so einen Auf-Leben-und-Tod-Ball in die internationalen Wolken, wurde die Wunde Hoeness erneut aufgerissen. Niemals geben sie Ruhe. Mit aller Macht drängte sich ihm das Wort „Wolkenkratzer“ auf, Fragment der morgigen Schlagzeile in der blöden Zeitung. Schon wieder die Stimme seines Vaters: Denk dran, bevor du anläufst, konzentriert auf den Boden schauen und zählen: 21, 22, 23… Und die Krankenhauseinlieferungen stiegen um 27 Prozent. Mit Herzinfarkten war zu rechnen, unter den Männern. Frauen reagierten gelassener.
Noch fünf Sekunden. Jetzt Spannung aufbauen für den Sprung. Auf die Fußstellung seines Standbeins beim Schuss achten. Die Stellung des Fußes verriet die Schussrichtung, war alles nur eine Frage der Wahrnehmung. Anschließend auf die Knie fallen und die Hände zum Himmel. Dank, Erlösung! Der Rest wird Geschichte und Legende. Erhaben, einsam, unbeteiligt, so schreitet der Held des Fußballtors durch die Straßen, verfolgt von hingerissenen kleinen Jungs. Die andern sind Team, sind Kollektiv. Die Eins ist Gegenstand verzückter Verehrung. Mein Trikot, meine Baseballmütze, die Handschuhe, die aus der Gesäßtasche meiner kurzen Hose schauen, heben mich von der übrigen Mannschaft ab. Ich bin der Einsame, der Geheimnisvolle, der letzte Verteidiger.
Kurzer oder langer Anlauf, das war die Frage. Vorher schauen sie sich immer Videos an. Achten auf jede Bewegung, in welche Ecke wir schießen. Kennen jede Geste besser als man selbst. Wenn ich alles so mache wie üblich, springt er in meine todsichere Ecke. Aber da liegt der Hase im Pfeffer. Er wird vermuten, dass ich alles genauso wie immer mache und in meine ungeliebte springen, weil er mir unterstellt, dass ich weiß, dass er weiß. Nee, nee, mein Freund, den Gefallen tu ich dir aber nicht, ich schieße in meine todsichere, weil du meinst, ich würde in die andere schießen. Doch wenn er nun meint, ich würde in meine Lieblingsecke schießen, weil ich ihm unterstelle, dass er mir unterstellt, ich würde in meine ungeliebte Ecke schießen. Moment mal, wer unterstellt jetzt wem was?
Er dreht sich um, hat den langen Anlauf gewählt. Schießt also mit dem Hammer. Oder er hält auf halbem Wege inne, hoffend ich würde schon springen. Dann schiebt er den Ball aufreizend langsam in die freie Ecke. Nicht mit mir, mein Freund. Habe das Märchen unter die Medien gestreut, würde mir jeden Elfer eine Million mal auf Video ansehen. Haben sie gern, haben was zu dichten, die Idioten. Und verunsichert die Schützen. Ich springe erst, wenn der Fuß deines Standbeins mir die Richtung des Balles erzählt. Auf den geschossenen Ball reagieren geht nicht. Der ist in 51 Millisekunden hier, so schnell springt kein Mensch. Aber das Standbein und die Stellung der Hüfte verraten mir die Flugbahn. Worauf wartet der noch, los lass gehn!
Wie schießen? Mit der Seite schieben oder den Torwart mit ins Netz ballern. Wie Messi gestern gegen Italien. Täuschte an und verheimlichte, wohin er seinen Siegesstoß senden würde. Wickelte seinen Fuß im letzten Moment um den Ball. Der Torhüter als dummer Junge in der falschen Ecke. Wie käme das an? Mit einem Trippelschritt den Anlauf verzögern. Der nasse Sack da plumpst auf die Linie und ich tippe den Ball ganz beiläufig mit der Fußspitze an, dass er in die leere Ecke hoppelt, in die mit groteskem Krabbeln der Kerl vergeblich zu kommen sucht. Wie sie meine Kaltschnäuzigkeit preisen werden.
Aha, er trippelt sich locker auf der Stelle. Gleich wird er zum Helden, aber zum tragischen. Ist ja eigentlich von Vorteil den Ball ordentlich zu versemmeln. Die Elfmeter-Versager sind es, Hoeness, Baggio, Beckham, die erinnert werden, viel mehr als die erfolgreichen Schützen. Also mach’ dir einen Namen, treib die Pille übers Tribünendach. Damit schlägst du dauerhaft in die Zuschauerköpfe ein.
Vor zwei Jahren gebrochen und jetzt war er wieder kalt und taub, verfluchter Zeh. Egal! Ein Schlenzer halb hoch in die Ecke gesetzt, dicht an den Pfosten. Da kommt er nicht dran. Mache das wie nach dem Lehrbuch, entscheide nicht im letzten Moment, sondern jetzt.
Er lächelte. Dem zweiten Schützen hatte er zugeraunt, komm lass uns wetten. Ich setze meinen BMW. Was hältst du dagegen? Um den Mund herum hatten bei dem spöttische Falten gezwitschert, aber die Pupillen waren blass geworden vor Angst.
Kam jetzt nur auf die Härte des Schusses an. Wie lange kann ich eigentlich warten, bevor mich der Schiedsrichter ermahnt? Ich warte, bis der einen Krampf kriegt in seiner Lauerstellung. Aber je mehr Wucht ich in den Schuss lege, desto schwieriger ist die exakte Platzierung. Ein ehernes Gesetz des Fußballs. Und meinem Sohn flattert nach einem Vierteljahrhundert noch die Erinnerung in den Schoß. Niemals gaben sie Ruhe.
Dann war es still. Nur sein Herz schlug noch im Ohr. Niemals werden sie vergessen, wie ich den Ball, schon geschlagen, mit den Füßen aus dem Tor trete. Habe mich zwar in die falsche Ecke schicken lassen, doch mit dem Geschickten ist das Glück. Auf!
Die Hauruckmethode war absolut sicher. Nur keine Rückenlage und Flugzeug vom Himmel holen. Sein Sohn sollte es mal erzählen können: Vater, Elfmeter, Tor.
Den vierten Schützen hatte er gefragt, hast du schon mal auf eine Bananenschale getreten? Das Gesicht! Siehst du denn nicht all die Bananenschalen, die um den Punkt herumlungern und dir zugrinsen?
Nicht länger konnte er der Stille standhalten, warf seinen Oberkörper nach vorn und auch die Beine folgten, waren ganz leicht jetzt, ging alles ganz schnell jetzt. Nun endlich Leere da oben.
Er läuft an. Die Stellung des Fußes, der Hüfte. Ach was, noch einen Schritt, dann fliege ich in meine Lieblingsecke.
Warum springt er denn nicht. Spring endlich! Mach die Ecke frei! Dann knackender Schmerz im Knöchel des Standbeins. Und doch! Schnurstracks wie am Schmerzpfeil entlang fliegt der Ball in die angewiesene Richtung. Der Ball, die Latte, die Linie…
Da kommt der Ball, ist schon da. Wenn nur die Schwerkraft nicht wäre. Scheiße, zu hoch, viel zu hoch, so was hältst du nur mit der freundlichen Unterstützung des Schicksals — der Latte.
„Tor!“, brüllte er. Und noch zweimal: „Tor!, Tor!“
Alle Zuschauer hatten die Hände ganz oben im Himmel, aber nur die eine Hälfte jubelte: „Tor! Tor!“ Der Torhüter schüttelte den Kopf, schaute zum Schiedsrichter und sagte: „Linie!“ Und irgendwo fragte ein Reporter leise: „Hat das denn nie ein Ende?“

Curry, Senf und Ketchup (Krimi)
Ein Universitätsprofessor wird ermordet, ein Neonazi und eine Politikerin. Was verbindet die drei? Und ein Fußballtrainer wird verdächtigt.
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